Tierische Gifte und Substanzen in Arzneimitteln

Die Tierwelt bietet der Arzneimittelforschung und Entwicklung, ähnlich wie die Pflanzenwelt, ein großes Repertoire an möglichen Wirkstoffen gegen verschiedene Erkrankungen. AMIRA möchte euch einige davon näher vorstellen.

Fressen und gefressen werden – so könnte, oberflächlich betrachtet, ein evolutionsbiologisch grundiertes Gesetz des Lebens lauten. Wer zu den von Charles Darwin so genannten „Fitten“, also den bestens Angepassten gehören will, legt sich beizeiten Mechanismen zu, sich seine Fressfeinde vom Leibe zu halten. Zum Beispiel durch Gifte. Deren Produktion ist ein weitverbreitetes Prinzip des Lebens und Überlebens, sowohl in Fauna als auch Flora. Tiere nutzen sie nicht nur zu Abwehr-, sondern auch zum Zweck, selbst Beute zu machen. Menschen wiederum machen sich diese Gifte zunutze für die Arzneimittelforschung – oder worauf sonst sollte die aus dem Apothekenzeichen hinlänglich bekannte Schlange hinweisen …?

Die meisten Toxine sind Proteine/Peptide und Alkaloide, deren Zweck es ist, Angreifer oder Beute durch Lähmung und Betäubung des Nerven- und Immunsystems auszuschalten. Der zweite Angriffspunkt ist der Blutkreislauf, wo die Gifte den Blutdruck rasch abfallen lassen und die Blutgerinnung hemmen. Andere tierische Substanzen sind nicht unbedingt giftig, wirken aber segensreich, weil sie schmerzlindernd sind oder gegen Krebs helfen.

Herz-Kreislauf-Medikamente: Captopril, Integrilin

Gewonnen wurde Captopril erstmals aus dem Gift der brasilianischen Viper Bothrops jararaca, der Lanzenotter. Das Gift der Schlange führt bei Feinden und Beute zu einem plötzlichen, oft sogar direkt tödlichen Blutdruckabfall. Aus diesem Gift wurde das Gemisch einer peptidischen Verbindung BPP (Bradykinin Potentiating Peptide) synthetisiert. Als Medikament hemmt Captopril das Angiotensin Converting Enzyme (ACE) und senkt auf diese Weise den Blutdruck. Captopril ist die Leitsubstanz einer ganzen Gruppe von ACE-Hemmern („Prilen“), die 1974 von Miguel Ondetti und David Cushman bei Squibb (heute: Bristol-Myers Squibb) entwickelt und 1981 zugelassen wurde. Allerdings wird es nach und nach durch neuere Generationen von Blutdrucksenkern abgelöst.

Ebenfalls auf ein Peptid aus Schlangengift geht Integrilin zurück, ein Medikament zur Behandlung von Herzinfarkten und koronaren Durchblutungsstörungen sowie zur Vorbeugung von Komplikationen bei perkutanen Koronarinterventionen. Es gehört zur Gruppe der sogenannten „Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptor-Antagonisten“. Sein Wirkstaoff, Eptifibatid, bindet an die Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptoren auf den Blutplättchen und hemmt dadurch die Zusammenlagerung von Blutplättchen, die für die Bildung von Blutgerinnseln verantwortlich ist.

Antidiabetika: Die GLP-1-Agonisten

Das Reptiliengift der Gila-Krustenechse (Heloderma suspectum) ist ein weiteres Beispiel. Seine Synthese begründete ebenfalls eine neue Klasse von Medikamenten, die Inkretinmimetika (GLP-1 Agonisten). 2005 wurde als erste Substanz der Wirkstoffklasse ein Medikament zur Blutzuckersenkung bei Diabetes mellitus zugelassen: Exenatid (Handelsname Byetta). Es wird als Injektion gegen den Typ-2 Diabetes verwendet und senkt den Blutzucker bei gleichzeitiger Erhöhung der Insulinsekretion.

Schmerzmittel: Ziconotid

Ein Schmerzmittel aus dem Gift der Kegelschnecke ist Ziconotid. Es ist ein Nichtopioid-Analgetikum, das sich wirksamer als bekannte Schmerzmittel erweist und als möglicher Ersatz für Morphin gilt. In den 1980er Jahren entdeckten Forscher, dass das Gift der Kegelschnecke eine Gruppe von Peptiden enthält, die als Omega-Conotoxine bezeichnet werden. Diese Peptide hemmen die Aktivität von Calciumkanälen im Nervensystem, was zu einer verminderten Freisetzung von Neurotransmittern und einer verminderten Übertragung von Schmerzsignalen führt. Intrathekal – also in den Liquorraum – injiziert, blockiert es sehr gezielt die Schmerzreizleitung – 1000-mal potenter als Morphium und ohne Abhängigkeitserscheinungen. Gedacht ist es für Menschen, die auf Opiate nicht mehr ansprechen. Allerdings besteht wegen der Punktion des Liquorraums die Gefahr einer Meningitis. Gesteuert wird die Dosierung über eine Mikroinfusionspumpe. In Deutschland ist es seit 2006 unter dem Handelsnamen Prialt® auf dem Markt.

Krebsmedikamente: Yondelis

Yondelis ist ein Krebsarzneimittel, das den Wirkstoff Trabectedin enthält. Isoliert wurde dieser aus einem marinen Organismus, der Seescheide Ecteinascidia turbinata. Es wird zur Behandlung von fortgeschrittenem Weichteilsarkom und rezidivierendem Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs) bei Erwachsenen angewendet. Es greift in den Zellzyklus ein, indem es die DNA-Replikation und die Transkription von Genen beeinträchtigt. Darüber hinaus hemmt es die Aktivität von Proteinen, die an der Entstehung von Krebs beteiligt sind, einschließlich Transkriptionsfaktoren und Signalübertragungswegen. Yondelis ist auf dem deutschen Markt unter dem Handelsnamen Yondelis® verfügbar.

Man sieht: Die Apotheke der Natur ist besonders potent. Kein Wunder, dass Wissenschafts-Teams in aller Welt mit Hochdruck nach neuen Wirkstoffen in bekannten und unbekannten Organismen suchen. Und: Die Schlange findet sich im Apothekenzeichen völlig zu Recht!

Demnächst gehen wir auf tierische Arzneistoffe ein, die nicht als Gifte zu klassifizieren sind. Stay tuned!