Die große „Fehlallokation“
Neulich nach dem Dienst war ich im Supermarkt. Weil der Tag stressig war und ich nicht recht zum Essen kam, hatte ich ganz schön Hunger. Ich erinnere mich noch, wie meine Kollegin mir sagte: „Geh lieber nicht hungrig einkaufen, dann hast du hinterher mehr im Korb als du brauchst…“ Iwo, ich doch nicht…
Dennoch kam es, wie von der Kollegin prophezeit, von meinen geliebten Joghurts kaufte ich zwei oder drei Becherlein mehr als sonst. Die reiften dann im hinteren Bereich des Kühlschranks ihrem Mindesthaltbarkeitsdatum entgegen und überschritten es schließlich. Noch essbar? Deckel auf, Geruchs- und Geschmacksprobe – kein Ekel! – puhhh, so gerade konnte ich Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung noch einmal gerecht werden.
Warum ich diese kleine Alltagsbanalität zum Besten gebe? Nun, da war in der vergangenen Woche ein schönes Beispiel dafür zu lesen, dass andere in ganz anderen Größenordnungen von Verschwendung bedroht sind. Zum Beispiel – mal wieder – unser Staat (ähem, wer hätte das gedacht?). Nur heißt das bei dem vornehmer, die Ökonomen haben dafür den schönen Begriff „Fehlallokation“ geprägt. Klingt harmlos. Ist es aber nicht.
Was war passiert? Dies: Demnächst sollen die vom Staat während der Pandemie angeschafften FFP-2- und Operationsmasken wegen Überschreitung des Verwendungsdatums entsorgt werden. Es handelt sich um die läppische Menge von 5,8 Milliarden Masken, die zum Preis von 6,3 Milliarden Euro erworben wurden. Nochmal: Ja, wir sprechen von Milliarden!
70 Masken pro Nase – vom Windel- bis zum Gebissträger
Die Masken seien vorschriftsmäßig aus dem Verkehr zu ziehen und könnten nicht mehr zu den ursprünglichen Zwecken gebraucht werden, man habe sie vor Ablauf des Verwendungszeitraums auch nicht mehr an Krankenhäuser, Arztpraxen oder Apotheken bzw. sonstige Bedarfsstellen verteilen können, auf dass sie dort hätten gute Dienste leisten dürfen, und an bedürftige Länder verschenken gehe eben auch nicht, man wolle denen ja keine B-Ware aufhalsen, nur damit wir die nicht entsorgen müssen… Kurz: Eine Ausweichstrategie wie bei meiner privaten Joghurt-Geschmacksprobe scheint den Behörden nicht zur Verfügung zu stehen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie das damals in unserer Apotheke war, als das Virus kam: Ein paar Masken hatten wir in der Schublade, die gingen recht flott weg. Neue waren nur tröpfchenweise und mit viel Geschick zu bekommen, der Preis fürs Fünfer-Päckchen FFP-2 pendelte sich irgendwo bei 29 Euro ein. Alle Welt flehte Masken herbei, aber die gab‘s nicht. Kurz darauf kursierten im Netz Anleitungen, wie man sich aus Küchenpapier, Briefklammer und Gummiband Atemschutz selbst basteln sollte. Woraufhin sich engagierte Bundestagsmitglieder befleißigten, den Mangel auf eigene Faust zu beheben und Masken aus aller Welt – also China – herbeizuschaffen, und mit diesen Deals gleichzeitig auch etwas für die eigene Altersversorgung zu tun. Später nahmen der damalige Bundesgesundheitsminister Spahn und seine Beamten die Sache in die Hand und bestellten pro Nase rund 70 Masken. Glaubst du nicht? Rechnen wir kurz nach: 5,8 Milliarden Masken geteilt durch die Einwohnerzahl Deutschlands in Höhe von 83 Millionen Menschen ergibt – Moment – satte 69,87951807228916 Exemplare pro Einwohner, vom Neugeborenen bis zum Greis. Rund 70 Stück für jeden von uns.
Das übrigens in einer Situation, in der Masken wieder problemlos zu bekommen waren. Was man sich dabei dachte? Keine Ahnung, vielleicht war es einfach nur Kopflosigkeit oder Panik, vielleicht die Angst, die nächste Wahl zu verlieren. Wenn jemand von euch bessere Erklärungen hat: bitte melden!
Ja, schon klar. Es gab zahlreiche Menschen, die durchaus einen erhöhten Bedarf an Masken hatten – wir in der Apotheke zum Beispiel. Andere Healthcare-Professionals ging es gewiss nicht anders… Im Übrigen kennen auch wir in der Apotheke Fehlallokationen. Etwa wenn die Erkältungswelle flacher verläuft als gedacht, und schon mal was aus der Bevorratung für Husten/Schnupfen/Heiserkeit liegen bleibt. Wir sind eben alle nur Menschen und können nicht in die Zukunft blicken…
Zwei Trostpflaster
Vielleicht sollten wir uns damit trösten, dass die Masken in der Müllverbrennungsanlage einem anderen Projekt etwas Puste verschaffen: der Wärmewende. Vielleicht freuen sich Fernwärmekunden über ein paar zusätzliche Minuten Molligkeit, wenn die Masken erstmal lodern…
Vielleicht will man uns mit der Beseitigung der 6,3 Milliarden teuren Fehlallokation auch nur noch einmal bestätigen, dass die Pandemie endgültig vorbei ist. Vielleicht wandern die Dinger in den Ofen, weil man uns noch einmal sagen will: „Wir verbrennen die nur, weil nichts mehr passieren kann…“
Vielleicht ergeben die Milliarden – im Wortsinn „verbrannten“ – Euro plötzlich doch noch Sinn…
Wisst ihr was? Ich geh' jetzt zum Kühlschrank und schau nach, ob ich noch Reste meiner letzten privaten Fehlallokationen finde:
Bestimmt ist da noch ein Joghurt.
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