Lebenserwartung in Deutschland: In welche Richtung geht‘s?
Karl Lauterbach hält die Lebenserwartung in Deutschland für „nicht akzeptabel“. Die liegt nämlich ziemlich deutlich unter der anderer europäischer Länder. Die Apothekenspitzelin stellt ein paar Fragen und befürchtet nichts Gutes.
Ich gebe es zu: Ja, manchmal lese ich außer AMIRA auch noch andere Medien. Es passiert ja viel in der Welt und ich möchte auch abseits dessen, was in und rund um die Apotheke geschieht, einigermaßen informiert sein. Letztens zum Beispiel habe ich ein Interview mit Professor Karl Lauterbach und dem Kardiologen Stephan Baldus, bis zu diesem Jahr Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, in der Welt am Sonntag gelesen. Ellenlang, fast zwei Seiten, um genau zu sein. Es ging um die Frage, wieso die Lebenserwartung in Deutschland niedriger liegt als in vergleichbaren Ländern. Lauterbach sagte: „Bei der Lebenserwartung liegen wir von 16 westeuropäischen Ländern bei den Männern auf Rang 15 und bei den Frauen auf Rang 14. Das ist nicht akzeptabel.“
Das wusste ich bislang noch gar nicht, denn ich dachte, in einem reichen und wohlhabenden Staat – so heißt es doch immer von Deutschland – sollten die Bürger eine Lebenserwartung haben, die an der Spitze vergleichbarer Länder liegt. Tut sie aber nicht.
Zu wenig und zu schlechte Vorsorge kostet Lebensjahre
Die beiden Professoren – Lauterbach ist ja auch einer – unterhielten sich dann über die Ursachen dieser Lebenserwartungs-Lücke und kamen zu dem Schluss, dass Herz-Kreislauferkrankungen ein wesentlicher Teil der Erklärung seien. Genauer gesagt: Nicht die Behandlung, die sei top in Deutschland, aber die Vorsorge. Zu viele Menschen wüssten nämlich nicht, dass sie unter Risikofaktoren wie hohem Blutdruck oder einer Fettstoffwechselstörung leiden. Das sind gleichsam „stumme“ Risiken, die lange nicht auffallen und sich dann plötzlich in einem „Ereignis“ wie Schlaganfall oder Herzinfarkt entladen, mit teilweise tödlichen Folgen. In anderen Ländern, da waren sich die beiden einig, sei die Vorsorge besser.
Da ist was dran, denke ich. Grund genug also, in der Apotheke immer wieder das Blutdruckmessen im Rahmen der pDL anzubieten. Oder im Beratungsgespräch auf die Cholesterinbestimmung hinzuweisen, die wir ebenfalls im Portfolio haben.
Damit war die Sache für mich aber noch nicht zu Ende. Die ganze Zeit rumorte mir die Aussage von Lauterbach im Kopf herum, dass die vergleichsweise geringe Lebenserwartung der hiesigen Bevölkerung „nicht akzeptabel“ sei. Klingt kernig und nach Tatkraft. Ja, lasst uns die Vorsorge doch einfach verbessern und Screening-Programme auch für Menschen in jungen oder mittleren Jahren auflegen. Selbst wenn das Geld kostet.
Wenn der Wohlstand steigt, erhöht sich die Lebenserwartung…
Aber wird das reichen, um die Lebenserwartung zu steigern? Ich bin mir nicht mehr sicher. In der Schule habe ich gelernt, dass Lebenserwartung positiv mit der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes zusammenhängt, quasi parallel läuft. Je höher der Entwicklungsstand eines Landes, desto höher auch die Lebenserwartung. Kurz: Industrieländer = hohe Lebenserwartung. Entwicklungsländer = geringere Lebenserwartung. Gelingt den letztgenannten Ländern ein nachhaltiger wirtschaftlicher Aufschwung, steigt die Verweildauer ihrer Bürger auf Erden. So einfach ist das.
Jetzt habe ich in letzter Zeit – wie gesagt: ich lese Zeitung – häufiger wahrgenommen, dass Deutschland vor einer Deindustrialisierung stehen soll. Die einen erklären das zu ihrem politischen Programm, weil sie das Klima schützen wollen und unsere Art zu leben für die Ursache vieler Übel halten. Die anderen sehen in der Energieknappheit und weiteren Entwicklungen (Ukraine/Russland etc.) den Grund für den erwarteten Niedergang bzw. die Abwanderung der Industrie. Schön, dachte ich zunächst, egal was die Ursache ist, erstmal kommt weniger Dreck aus den Schloten, die Umweltbelastung nimmt ab.
Aber Moment mal: Heißt Rückgang der Industrie nicht auch weniger gut bezahlte Arbeitsplätze und weniger Steuereinnahmen? Und damit auch: weniger Wohlstand? Was ist denn, wenn sich langsam, aber doch spürbar, ein ganz unangenehmer Zusammenhang in unser Leben schleicht. Nämlich der, dass sinkender Wohlstand zu einer Abnahme der Lebenserwartung führt. Schließlich gilt die umgekehrte Verknüpfung, wie oben beschrieben, ja ebenfalls. Bestimmt passiert das nicht von heute auf morgen, aber mittel- und langfristig? Wie sieht´s in zehn Jahren aus, wenn Entwicklungen eingetreten sind, die sich nicht mehr ohne weiteres korrigieren lassen, die von einigen befürchtete Energiearmut zum Beispiel, weil die Erneuerbaren und Wasserstoff eben doch nicht alles wuppen. Und was passiert eigentlich mit Arbeitsplätzen und Industrien, wenn wir die ganzen großen Bösewichter Kohle, Gas und Öl, Verbrennungsmotor und Automobilindustrie hinter uns gelassen haben? Wahrscheinlich wird´s dann eher weniger Produktion in Deutschland geben als jetzt. Und damit auch kein Geld mehr, das man in andere Bereiche lenken könnte, und seien die noch so wünschenswert und sinnvoll – etwa in medizinisch sinnvolle Vorsorge-Programme. Irgendwie, so fühle ich, hängt alles auf verzwickte Weise miteinander zusammen.
…sinkt sie auch, wenn der Wohlstand abnimmt?
Aber was würde es denn jetzt konkret bedeuten, wenn die Lebenserwartung sinkt, sagen wir, um sechs Monate. Gut, individuell merkt man das vielleicht nicht, aber in der Statistik wird sich das auswirken. Man kann die Gefahr durch eine kleine Überlegung sehr anschaulich darstellen. Mal kurz kalkuliert: Bei 84 Millionen Einwohnern gingen auf diese Weise 42 Millionen Lebensjahre flöten (84 Millionen x 0,5 Jahre). Das ist die Gesamtlebenszeit von 525.000 Menschen, wenn wir bei denen ein Sterbealter von 80 Jahren annehmen (42 Millionen:80 Jahre). „Ein Rückgang um sechs Monate – das passiert nie und nimmer!“, sagst du? Gut, nehmen wir einen Rückgang von drei Monaten. Dann landen wir nach obiger Umrechnung bei 21 Millionen Lebensjahren und 262.500 Menschenleben. Es kommt fast immer die Einwohnerzahl einer Großstadt dabei heraus.
Einverstanden, die Rechnung ist ein bisschen ungewöhnlich. Außerdem kann es ja sein, dass der Wohlstand gar nicht abnimmt. Oder dass grüne Energie und der Umbau der Wirtschaft den Wohlstand tatsächlich – wie erhofft – steigen lassen. Oder dass der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Lebenserwartung nur in eine Richtung wirkt, in die positive nämlich. Ich drücke für all das kräftig die Daumen. Aber wer will das garantieren? Vielleicht wäre es besser, unseren so in Verruf geratenen „Wohlstand“ als etwas ziemlich wertvolles, weil lebensverlängerndes schätzen zu lernen…
So oder so, einstweilen finde ich Lauterbachs Vorschlag, die Vorsorge zu verbessern, nicht falsch. Ich persönlich werde in den kommenden Jahren trotzdem immer wieder mal schauen, wie sich die Lebenserwartung in Deutschland so entwickelt. Inzwischen werde ich Kunden häufiger davon zu überzeugen suchen, sich die Blutdruck-Manschette anlegen zu lassen. Dem Einzelnen hilft das bestimmt.
AMIRA fragt: Was meinst du – hältst du das vorgebrachte Argument für stichhaltig? Könnte es sein, dass die Lebenserwartung in Deutschland eher sinkt als steigt? Wir sind gespannt auf deine Einschätzung!