Mit 60 wird´s gefährlich. Echt jetzt?

Die Erkältungszeit naht und verlässlich hagelt es wieder vor Empfehlungen, sich ab 60 Jahren besonders vor diesen und anderen Erkrankungen zu schützen. Die Apothekenspitzelin fragt sich, ob die 60-Jahre-Grenze noch zeitgemäß ist.

Ein Tag wie jeder andere, ein Montag, und es ist noch recht früh am Vormittag. Wie gewohnt stehe ich hinter dem HV-Tisch und berate meine Kundschaft. Jetzt ist ein Mann dran, schlank, um die 1,80 und – soweit meine Einschätzung nicht trügt – unter der appetitlich gebräunten Haut auch mit ein paar Muckis ausgestattet. Von Falten dagegen kaum eine Spur. Wahrscheinlich Anfang 60, aber fit wie ein Turnschuh. „Guten Tag, ich bräuchte ein paar Vitamine“, sagt er freundlich, „jetzt geht´s ja los mit der Erkältungszeit und ich will nicht…“. Kein Problem, denke ich – bis mir die typische Frage durch den Kopf schießt: „Haben Sie sich schon mal überlegt, sich impfen zu lassen?“

Ja! Die Reflexe stimmen noch. Auch bei mir. Ich höre, sehe, lese, denke: „sechzig“! Und schon gehe ich von einem Patienten aus, der vielleicht Vorerkrankungen hat oder ein besonders hohes Risiko für schweren Verlauf einer Erkrankung trägt, und sei es nur eine Erkältung. Manchmal habe ich das Gefühl, diese Zahl schwebt wie ein Mahnmal über uns allen. Sobald jemand „sechzig“ sagt, ertönt in meinem Kopf automatisch eine Liste: Herz-Kreislauf-Atmung, Stiko-Empfehlungen zu Covid, Grippe, Gürtelrose, Pneumokokken und natürlich jede Menge Vorsorge – sicher ist sicher! Und natürlich ist das auch alles richtig.

Aber mal ehrlich, sind Sechzigjährige heute wirklich eine Risikogruppe oder nicht eher eine unglaublich fitte Generation, die uns alle mit ihrem Elan beschämt?

Man sieht es doch: Sechzig ist das neue Fünfzig – oder vielleicht sogar das neue Vierzig! Vor mir steht kein Mann, der sich beim Treppensteigen am Geländer festhalten muss. Nein, da steht einer, der wahrscheinlich jeden Morgen um sechs Uhr seine Joggingrunden dreht und mich mit seiner Fitness locker in den Schatten stellt. Und trotzdem plädiere ich artig dafür, ab 60 besonders gut auf sich aufzupassen, weil es eben mein Job ist. Kann es sein, dass wir mit unseren Empfehlungen jemanden diskriminieren, der fitter ist als viele Social Media-zermürbte, zwanzigjährige Couchpotatoes? Und das nur, weil er einen gewissen Geburtstag gefeiert hat?

Die Geschichte von Erwin

Ja, ich weiß, die Empfehlungen stammen von Politik, Gesundheitsbehörden, Verbänden und Gesellschaften, von Ärzten und letztlich auch von uns, die sich um das Wohlergehen der Menschen sorgen. Und gewiss nehmen mit 60 die Gesundheitsbeschwerden, die „Zipperlein“, zu. Deshalb ist es nicht falsch, ab diesem Alter mehr auf seine Gesundheit zu achten. Aber sind die 60er von heute zu vergleichen mit den 60ern von damals, als die Empfehlungen formuliert wurden?

Ich erinnere mich noch gut an eine Fernseh-Doku vor ein paar Jahren, schön in Schwarzweiß und ein bisschen grobkörnig gefilmt. Da war ein Reportageteam ins Ruhrgebiet gefahren und hat in einer Eckkneipe bei einem sonntäglichen Frühschoppen reingeschaut. Muss so um 1958 gewesen sein. Rauchschwaden hingen in der Luft und den Bierdunst konnte man förmlich riechen. Einer der Protagonisten, vielleicht hieß er Erwin, seinen richtigen Namen weiß ich nicht mehr, war Bergmann und ließ sich sein Pils ebenso schmecken wie stummelige Fluppe zwischen seinen Fingern. Der Mann gab dem Filmteam bereitwillig zur gestellten Frage Auskunft, aber das war nicht das Entscheidende. Entscheidend war, wie er aussah: Schwarzer Sonntagsanzug, Krawatte, ziemlich drahtig, Pomade im Haar und im Gesicht tiefe, harte Falten. Als Erwin sagte, wie alt er sei, habe ich nur gedacht: Autsch, wenn das mal noch lange gutgeht. Erwin war nämlich noch keine 30, sah aber aus wie – nein, nicht direkt wie 60, aber nahe dran.

Kein Wunder: Die Schufterei im Pütt war körperlich unglaublich hart und hinterließ Spuren. Mit Sechzig war man nach harten Berufsjahren im Berg-, Stahl- oder Automobilwerk, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft ziemlich kaputt. Dass man mit Staublunge, wie sie viele Bergleute von der Zeche als Vorerkrankung mitbrachten, krank, gefährdet und anfällig war – nun ja, das stimmte einfach. So ein „Erwin“ verbrachte nach dem Arbeitsleben noch drei Jahre mit seinen Tauben und legte sich dann auf ewig nieder. So war das damals: 60 war gefährlich.

Schauen wir uns dagegen die Sechzigjährigen von heute an! Diese sogenannten „Best-Ager“ schwingen sich nach einem Tag im Homeoffice gern mal aufs Rennrad, fahren Skateboard mit ihren Enkeln, wandern die Berge rauf und runter und stürzen sich in Sportarten, bei denen ich mir schon beim Zuschauen eine Zerrung hole. Manche, las ich neulich, fliegen mit knapp 60 im Auftrag der NASA sogar noch ins All. So jedenfalls Suni Williams, 58 Jahre alt, und Butch Wilmore, 61, die aktuell mindestens acht Monate auf der ISS festsitzen, weil ihre Kapsel defekt ist. Kurz gesagt: Viele 60-Jährige von heute sind fitter als ihre Altersgenossen von früher, sind sogar besser zurecht als Unsereiner. Und die überstehen eine Erkältung schlechter als ich?

Aus Angst alles checken lassen, was geht

Vielleicht sollten wir diese „Besonders-gefährdet-Grenze“ von 60 Jahren noch einmal gründlich überdenken. Ja, ich weiß: Vorsorge ist wichtig, denn die Gesundheitsrisiken nehmen mit höherem Alter zu, vor allem bei den großen Killern Herz-Kreislauf und Krebs. Aber kann es sein, dass die ständige Mahnung, mit 60 trete man automatisch in diesen „Gefährdeten-Club“ ein, die Menschen ziemlich verunsichert? Die eilen dann wegen jedes Wehwehchens höchst besorgt direkt zum Facharzt und lassen alles checken, was geht. Das stimmt die Krankenkassen unfroh.

Natürlich, ich will niemanden ermutigen, den Arztbesuch einfach zu streichen. Aber man könnte ja erstmal in der Apotheke fragen. Jetzt kommt aber noch ein Clou: Wenn unsere Gesellschaft aufhört, diese fitte, agile Generation ständig mit dem Hinweis auf „besondere Wachsamkeit und Vorsicht“ zu traktieren, könnte das Gesundheitssystem vielleicht ein bisschen aufatmen. Weniger überflüssige Untersuchungen, weniger Angst und Sorge, weniger Kosten – und die Wartezimmer wären auch nicht mehr so voll. Ich gebe zu, das wäre jetzt nicht direkt der Gamechanger und die Rettung fürs klamme Gesundheitssystem, denn dieses krankt nun wahrlich an anderen Finanzlecks! Aber wenn wir unsere freundlich-fürsorglichen Mahnungen eher in Richtung 70 Lebensjahre justieren, hätte wir alle mehr Energie und Geld, den Menschen zu helfen, die es wirklich brauchen. Und die 60-Jährigen hätten dann auch nicht mehr das Gefühl, zum alten Eisen zu gehören.

Übrigens: Vitamine hat der Kunde dann doch genommen. Und gegen Pneumokokken impfen lassen wollte er sich auch, wie er noch sagte.

Kann ja nicht schaden.

AMIRA fragt: Wie ist eure Beobachtung – sind die 60-Jährigen von heute fitter und besser zurecht als früher? Kommt euch die 60-Jahre-Grenze auch überholt vor? Oder sollte man ab dann wirklich besser auf sich aufpassen? Schreibt es uns in die Kommentare.