Deindustrialisierung? Was geht mich das an?
Weihnachten steht vor der Tür, aber die Apothekenspitzelin macht sich Sorgen – um unsere Wirtschaft. Was haben die Sorgen von Stahlkochern und Autowerkern damit zu tun?
Ab und zu mache ich – die kleine Apothekenspitzelin – mir auch mal Gedanken, die nicht hinter dem HV-Tisch aufhören. Ihr kennt das vielleicht von mir. Und ich denke, ich darf euch das zumuten, weil ja am Ende doch immer ein Zusammenhang zu unserem Job hervorgekehrt und die heute in der Überschrift gestellte Frage auch beantwortet wird. Deshalb will ich an dieser Stelle mal ausbreiten, was mir so im Kopf rumging in den letzten Tagen. Vielleicht könnt ihr ja nachvollziehen, was mich bewegt. Deshalb bin ich auch auf eure Meinung gespannt, die ihr mir – wie immer – in den Kommentaren mitteilen könnt.
Also los. Nicht ganz überraschend für diese Jahreszeit hat es etwas mit Weihnachten zu tun. Aber nicht so, wie ihr vielleicht denkt.
Im Nachrichtensturm, der über uns hinwegzieht, ist in den letzten Monaten und Wochen immer häufiger von einem Niedergang der deutschen Industrie zu lesen und zu hören. Im Ruhrgebiet, genauer gesagt in Duisburg, möchte das Unternehmen Thyssen-Krupp zwei Hochöfen stilllegen und rund 11.000 Arbeitsplätze abbauen. In Wolfsburg, da wo VW seinen Sitz hat, wird über Schließung ganzer Werke nachgedacht, was natürlich ebenfalls tausende von Arbeitsplätzen in weiteren Orten der Republik kosten wird. Dabei ist VW nur die Spitze des Eisbergs, denn auch die anderen deutschen Autoherstellern berichten von Problemen: Zu wenig Absatz, zu hohe Verluste in der Produktion – und schon stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Ebenso sieht´s im industriellen Mittelstand aus, manche (und es sind mehr als „einige“) Unternehmen wollen sich wegen der Probleme gar aus Deutschland verabschieden und ihre Produktion im Ausland aufziehen.
Im Fernsehen werden die Clips mit den Demos der Gewerkschaften gezeigt, Tausende entrüsteter Arbeiter und Angestellter (denn auch von denen werden viele ihren Job los, sollten die Pläne des Managements verwirklicht werden) machen mobil und sind vor den Werkstoren und auf den Straßen unterwegs, um für ihre Interessen einzustehen. Und das alles in der Weihnachtszeit! Ich meine: Wie muss die Stimmung unter Menschen sein, die kurz vor dem Fest erfahren, dass sie wahrscheinlich ihre Jobs verlieren werden? Wie müssen Kinder aus Familien empfinden, deren Väter und Mütter ihre Familie demnächst vielleicht von Arbeitslosengeld durchbringen müssen? Wie mag ein von solchen Gedanken, Ängsten und drohenden Schicksalen überschattetes Fest wohl ablaufen? Wird es weniger Geschenke geben, ein weniger opulentes Festmahl?
Ein Netz aus Arbeitsplätzen – und was passiert, wenn es reißt
Jetzt mögt ihr vielleicht mitfühlend-zustimmend nicken, euch gleichzeitig aber auch fragen, was das Schicksal eines Hochofens mit der Zukunft einer Apotheke bzw. mit euch, pardon: uns, zu tun hat. Tja, ich sag´s mal so: Tatsächlich sind unsere Wirtschaft und unser Wohlstand wie Zahnräder miteinander verbunden. Jeder Arbeitsplatz in der Industrie erzeugt Nachfrage in vielen anderen Branchen – von Handwerksbetrieben, die Reparaturen durchführen, bis hin zu uns in den Apotheken, die das OTC-Sortiment für die alltäglichen Gesundheitsbedürfnisse bereitstellen.
Wenn Arbeitsplätze in großer Zahl verschwinden, hat dies direkte Auswirkungen auf die Kaufkraft in einer Region. Weniger Einkommen bedeutet weniger Konsum, und das betrifft nicht nur den Bäcker, die Boutique oder den Friseur nebenan, ich könnte mir vorstellen, dass auch wir in der Apotheke das zu spüren kriegen – gerade bei Produkten, die nicht verschreibungspflichtig sind. Ein Stahlarbeiter oder Autowerker, der seinen Job verliert, wird auch bei der Selbstmedikation sparen müssen. Statt hochwertiger Präparate aus der Apotheke werden dann möglicherweise günstigere Alternativen aus dem Discounter gewählt. Präventive Gesundheitsvorsorge, wie beispielsweise Vitaminpräparate oder Nahrungsergänzungsmittel, rückt in den Hintergrund. Das OTC-Geschäft, eine wichtige Säule unserer Apotheken, könnte dadurch empfindlich getroffen werden. Denn es gilt: Wer überlegt, wie er Miete, Energie und Lebensmittel bezahlen soll, spart oft zuerst bei scheinbar verzichtbaren Dingen. Dabei sind doch gerade diese Sortimente die Hoffnungsträger für uns, wenn der Festbetrag weiterhin feststeckt. Fest steht jedenfalls: Wo Kaufkraft schwindet, gerät der gesamte Standort unter Druck.
Deindustrialisierung – Ein Risiko für die Volkswirtschaft
In der Volkswirtschaftslehre, so habe ich mir sagen lassen, gebe es ein einfaches Prinzip: Arbeitsplätze schaffen Nachfrage. Die Einkommen, die in der Industrie verdient werden, fließen zurück in die Wirtschaft. Sie werden für den Kauf von Gütern und Dienstleistungen ausgegeben und sorgen so für Wachstum und Stabilität. Bricht ein zentraler Wirtschaftszweig weg, zieht das Kreise: Wenn die Hochöfen verlöschen und Fabrikhallen leer stehen, trifft das also nicht nur Stahlkocher und Autoschrauber – deren Probleme werden nämlich durchgereicht und landen irgendwann bei uns. Ich finde, es wäre deshalb durchaus in unserem Interesse – dem der Apotheken und ihrer Teams – wenn die Deindustrialisierung aufgehalten werden könnte. Sonst rauschen wir in eine Abwärtsspirale, die uns alle betrifft.
Was wir tun können
Stellt sich natürlich die Frage: Was tun, speziell in unserem Fall? Zum einen sollten wir die wirtschaftliche Entwicklung aufmerksam verfolgen, gerade in unserer direkten Umgebung. Drohen in der Region Arbeitsplätze wegzufallen, gilt es, frühzeitig zu überlegen, wie wir unser Sortiment und unsere Services anpassen können, um auch in schwierigen Zeiten relevant zu bleiben. Da ist auch mal Cleverness gefragt und unternehmerisches Gespür. Das ist das Eine, und sicher ist das leichter gesagt als getan.
Das Andere: Das ist eine Aufforderung an die Politik, noch mal genau darüber nachzudenken, wieso es gerade jetzt zu den ganzen Hiobsbotschaften für die Wirtschaft kommt. Wenn die Politik dieser Aufforderung zum Nachdenken nicht folgt, sollten wir das selbst tun: Sind ja bald Wahlen in diesem Land und die Parteien haben ja vor einigen Tagen ihre Programme vorgestellt. Da kann sich jeder eine Meinung bilden. Für mich jedenfalls stellt sich die Frage, ob es wirklich nur die geerbten, die externen oder die aufgezwungenen Entwicklungen sind, für die niemand was kann – Stichwort „unfähige“ Vorgängerregierung, Ukraine-Krieg, Gasschock, Weltkonjunktur, die wirtschaftliche Übermacht von China? Oder gibt´s auch Gründe, die wir uns in den vergangenen paar Jahren zu einem beachtlichen Teil selbst eingebrockt haben, teure Energie zum Beispiel? Oder den Druck, alles der CO2-Vermeidung unterzuordnen, koste es, was es wolle. Und bitte! Komme jetzt bloß niemand mit der Forderung: Der Staat soll´s richten, entweder durch Übernahme der betroffenen Betriebe, durch Subventionen oder Deckelung von Kosten. Wer zahlt das denn am Ende? Vielleicht ein paar Milliardäre, wie bestimmte Parteien es ankündigen. Ich glaube aber eher, es sind nach wie vor ich und du, ob Apothekenspitzelin, PTA, PKA, oder was sonst auch immer. Dabei ist mein Gehalt ist schon schmal genug, das kann ich versichern.
So, Schluss mit dem Volkswirtschafts-Seminar kurz vor Weihnachten. Jetzt hoffe ich erstmal, dass Stahlkocher, Autobauer oder die kleine Apothekenspitzelin samt ihrer Kolleginnen und Kollegen, die nach Lesen dieser Kolumne wissen, dass Deindustrialisierung eine Gefahr für uns alle ist, ein schönes und möglichst unbeschwertes Weihnachtsfest erleben dürfen. Das wünsche ich vor allem den akut betroffenen Familien. Und ganz speziell deren Kindern.