Rx-Medikamente ohne Rezept? Ein Gewissenskonflikt

Wenn Patient:innen wegen dringend benötigter Medikamente ohne Rezept in der Offizin stehen, sind Apotheken oft machtlos. Eine geplante Reform will das ändern – auch wenn die Ärzteschaft dagegen Sturm läuft.

Zwischen Rezeptpflicht und Patientenrealität 

Es ist Samstagmittag, kurz nach zwölf. In der Offizin liegt diese besondere Stille, die kurz vor Feierabend entsteht. Die letzten Kund:innen erledigen noch schnell ihre Besorgungen, doch draußen ziehen dunkle Wolken auf. 

Unsere Apothekerin Sabine Keller sortiert gerade ein paar Rückgaben, als die Tür resolut geöffnet wird. „Frau Keller!“, ruft eine Stimme, die sie sofort erkennt. Frau von Althausen, Stammkundin seit Jahren, steht im Eingang. Ihre Schritte klingen hastig auf den Fliesen, in der Hand hält sie ihre Krankenkassenkarte. 

„Ich habe ein Problem“, beginnt sie atemlos. „Mein Rezept für Bisoprolol und Spironolacton ist nicht da. Ich dachte, mein Hausarzt schickt es wie immer elektronisch, aber auf der Karte ist nichts. Gar nichts. Und die Tabletten sind leer. Ganz leer.“ 

Sabine blickt verständnisvoll. „Das ist wirklich ärgerlich, das verstehe ich gut. Aber ohne gültiges Rezept darf ich Ihnen die Arzneimittel nicht mitgeben.“ 

„Aber warum denn?“ Frau von Althausen hebt die Stimme, ihre Stirn gerunzelt. „Ich hole sie doch immer hier. Sie haben doch alles gespeichert im Kundenkonto – wozu ist das denn sonst gut? Sie wissen doch genau, dass ich diese Medikamente immer brauche!“ 

Sabine spürt das Unbehagen, das in solchen Momenten immer kommt. Sie weiß, dass die Patientin recht hat. Sie weiß auch, dass sie nichts tun darf. „Frau von Althausen, ich verstehe Sie wirklich. Aber wenn ich Ihnen die Packungen jetzt aushändige, mache ich mich strafbar. Das ist kein kleiner Verstoß – dafür könnte ich meine Approbation riskieren. Bitte fahren Sie ins Notfallzentrum, dort können Sie versorgt werden.“ 

Die Kundin starrt sie fassungslos an. „Am Samstagmittag? Wissen Sie, wie lange ich da warten muss? Das ist doch absurd! Sie wissen doch, dass ich diese Tabletten brauche.“ Sie atmet hörbar aus, ihre Stimme kippt ins Bittere: „Gut - wie sie wollen. Dann eben nicht. Aber hierher komme ich ganz bestimmt nie mehr, das können sie ihrem Chef schon mal ausrichten.“ Mit einem Ruck dreht sie sich um, und stürmt aus der Apotheke. 

Zwischen Gewissen und Gesetz 

Sabine bleibt zurück wie nach einem Gewitter: Hätte ich anders reagieren sollen? Hätte ich sie doch nicht wegschicken dürfen? Diesen Zwiespalt kennen wir leider alle. 

Da kommt ihre Kollegin Miriam aus dem Backoffice, die den Dialog mitbekommen hat. „Sabine, mach dir keine Vorwürfe. Du hast genau richtig gehandelt. Wir können nicht einfach verschreibungspflichtige Medikamente rausgeben, nur weil die Kunden nicht rechtzeitig dran denken, sie beim Arzt zu bestellen. Das ist deren Problem, nicht unseres. Wir stehen sonst mit einem Bein im Gefängnis.“ 

„Und trotzdem fühlt es sich falsch an“, sagt Sabine leise. „Wir kennen Frau von Althausen seit Jahren. Wir wissen, was sie nimmt. Wir wissen, dass sie ihre Tabletten braucht. Und doch musste ich sie wegschicken.“ 

Reform in Sicht – Hoffnung für die Offizin? 

Miriam nickt. „Ja. Aber vielleicht ändert sich genau das bald. Die Bundesregierung plant ja eine Regelung, nach der wir in solchen Fällen eine kleine Überbrückungsmenge abgeben dürfen – dokumentiert, streng begrenzt, aber immerhin. Endlich nimmt die Politik wahr, was wir hier täglich erleben.“ 

„Die Ärzteschaft sieht das aber kritisch, das weißt du“, wirft Sabine ein. „Da gab es doch neulich diesen offenen Brief.“ 

„Schon“, erwidert Miriam. „Aber seien wir ehrlich: Es geht nicht darum, den Ärzt:innen etwas wegzunehmen. Niemand von uns will Diagnosen stellen oder Therapien beginnen. Es geht nur darum, dass Menschen nicht ohne ihre lebenswichtigen Medikamente dastehen, nur weil die Praxis geschlossen hat. Und mal im Ernst: Würde die Ärzteschaft nicht selbst profitieren, wenn wir ihre Patienten am Wochenende auffangen können? Sie müssen dann weniger Notfallrezepte ausstellen.“ 

Miteinander statt gegeneinander 

Sabine nickt langsam. „Und eigentlich könnten wir uns das auch gegenseitig zugestehen. Wenn irgendwo keine Apotheke erreichbar ist, warum sollte ein Arzt oder eine Ärztin nicht im Notfall ein Antibiotikum oder ein Schmerzmittel mitgeben dürfen?“ 

„Genau“, sagt Miriam. „Miteinander statt gegeneinander. Das ist der richtige Weg. Jede Apotheke erlebt doch solche Momente – und jedes Mal bleibt der bittere Beigeschmack. Es geht doch um Versorgungssicherheit – und um Menschlichkeit.