Widerspruchslösung bei Organspende: Chance oder Zwang?

Der Deutsche Bundestag steht vor einer bedeutsamen Entscheidung: Eine fraktionsübergreifende Abgeordnetengruppe hat eine Initiative gestartet, um mehr Organspender zu gewinnen.

Der Vorschlag lautet „Einführung der Widerspruchslösung“. Das bedeutet, dass jeder Mensch nach seinem Tod bzw. Hirntod potenziell als Organspender gilt, es sei denn, er hat ausdrücklich widersprochen. Ich frage mich: Wird diese Lösung tatsächlich zu mehr Organspenden führen? Verwandelt sie uns alle in potenzielle Ersatzteillager? Und ist es gerecht, vom Staat gezwungen zu werden, eine solche Entscheidung treffen zu müssen?

Wird die Widerspruchslösung zu mehr Organspenden führen?

Das Naheliegendste in solchen Fällen, ist ja zu fragen: „Wie machen es die anderen?“. Sehen wir uns also mal in Europa um. Fast alle unsere Nachbarn – bis auf die Schweiz – setzen auf die Widerspruchslösung, nur wenige auf die Zustimmungslösung, die in Deutschland nach der letzten Reform im Jahr 2020 noch ein wenig komplexer geworden ist. Seither werden bei uns alle Erwachsenen von ihrer Krankenkasse jedes zweite Jahr über die Organspende informiert – das soll die Zahl der Spender erhöhen. Genutzt hat das nicht viel, deshalb ja die neue Initiative.

Aber nun meine Frage: Bringt die Widerspruchslösung tatsächlich mehr Spender, mehr Organe, mehr Überlebende? Von den Verfechtern der Widerspruchslösung wird immer Spanien genannt, das sei das Land mit den angeblich meisten Organspenden weltweit, und dort gilt diese Regelung bereits seit Jahren.

Die Zahlen sprechen für sich: Deutlich mehr Menschen sind dort bereit, ihre Organe zu spenden, was vielen Patienten das Leben rettet. Ich gebe zu, es liegt nahe, dass auch in Deutschland eine ähnliche Entwicklung möglich wäre. Denn die Hemmschwelle, sich aktiv gegen eine Organspende auszusprechen, könnte viele Menschen dazu bewegen, sich als Spender zur Verfügung zu stellen.

Passiert das wirklich? Die erstaunliche Antwort lautet: Die Chance ist da, aber groß ist sie nicht. In Spanien etwa gab es zwar ziemlich schnell mehr Spender, zunächst aber nicht mehr gespendete Organe. Auch das Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung verweist in einer Publikation auf zwei Studien, in denen Länder mit Widerspruchslösung mit denen einer Zustimmungslösung verglichen wurden. Britische Wissenschaftler fanden dabei keinen deutlichen Unterschied in der Zahl der Organspender zwischen den Systemen. Im Gegenteil: Die Länder mit Widerspruchslösung hatten sogar weniger Spenden von lebenden Personen (Nieren zum Beispiel).

Ein ähnliches Ergebnis legte das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung vor. Dieses untersuchte Länder, die ihr System Richtung Widerspruchslösung umstellten, fünf insgesamt. Ergebnis: Auch hier wuchs die Zahl der potenziellen, nicht aber die der tatsächlichen Spender.

Wie das?

„Einen wirklichen Effekt auf die Organspendezahlen haben Aufklärung, die Einführung von Prozessen zum Erkennen potenzieller Spenderinnen und Spender im Krankenhaus, eine einfühlsame Kommunikation mit den Angehörigen, eine angemessene Vergütung der Krankenhäuser – fehlen diese Bedingungen, nützt auch die Widerspruchslösung nicht viel“, erläutert die Autorin des RWI-Textes, Katharina Schüller, von der dem Institut angegliederten Statistik-Beratung STAT-UP. Erst als Spanien genau darauf sein Augenmerk gelegt habe, seien nicht nur die Zahlen der potenziellen, sondern auch die der tatsächlichen Organspender gestiegen. Das ist ein bedenkenswerter Umstand, finde ich.

Potenzielle Ersatzteillager?

Manche Kritiker der Widerspruchslösung befürchten zudem, dass sie die Menschen zu potenziellen „Ersatzteillagern“ degradiert. Aus solchen Ängsten werden Geschichten wie „Frankenstein“ gemacht oder spannende Krimis fürs Fernsehen. Das ist aber nicht die Realität, und ich befürchte auch nicht, dass es so wird. Gleichwohl, das Argument hat etwas Unheimliches, weil es tief in unsere ethischen und moralischen Vorstellungen eingreift. Ist es richtig, dass andere über unsere Körper nach dem Tod verfügen, wenn wir nicht ausdrücklich dagegen votiert haben? Hier stellt sich die Frage nach der Autonomie des Individuums und dem Recht, selbst über den eigenen Körper zu bestimmen, selbst, wenn dieser nicht mehr beseelt ist. Die Vorstellung, dass man nach dem Tod automatisch zur Spende bereitsteht, wird für manchen Zeitgenossen beunruhigend und unangenehm sein. Vielleicht nicht für mich, aber für andere, und ich frage mich, ob man die so einfach ignorieren darf… 

Einen anderen Aspekt finde ich wichtiger: Die Widerspruchslösung würde bedeuten, dass jeder Bürger sich mit dem Thema Organspende auseinandersetzen muss – ob er will oder nicht. Sich aktiv gegen eine Spende auszusprechen, gewinnt dabei schnell ein moralisches Moment. „Wie, du willst nicht spenden? Ich tu´s doch auch!“ Ja, man will zu den „Guten“ gehören. Das ist ein ziemlich unsanfter Druck, den eine solche Regelung auf Menschen ausübt, finde ich, auch wenn die Motive sehr nachvollziehbar sind. Fachleute nennen diesen Ansatz „Nudging“, zu Deutsch „Anstupsen“. Sie gehen davon aus, dass viele Entscheidungen den Einzelnen überfordern, weshalb der Staat aktiv werden muss, zur Not durch mehr oder minder sanften Zwang. Ist es angesichts solchen Zwangs – da mag der Zweck noch so erhaben sein – wirklich fair, die Vorgabe bei der Frage nach einer Organspende auf „Ja, bin dabei“ zu stellen?

Andererseits gilt natürlich: Organspenden schenken Leben. Wer die Dankbarkeit von Menschen, die Organe empfangen haben, erlebt hat, wird das nicht vergessen. Darum bin auch ich dafür, dass die Möglichkeiten, Menschen auf diesem Wege zu retten, ausgeschöpft werden. Leben zu wollen, das muss nun wirklich nicht begründet werden. Aber zur Erhöhung der Zahl von Spenderorganen, zur Umwandlung potenzieller in tatsächliche Spender gehören eben auch jene verbesserten Begleitumstände, wie sie das oben zitierte RWI benannt hat.

Das Problem ist: Die kosten Geld, jedenfalls viel mehr, als einfach nur den Schalter umzulegen und jeden von uns kurzerhand zum Organspender zu deklarieren. Ich jedenfalls bin gespannt, welche Argumente in der anstehenden Debatte noch vorgebracht werden.

AMIRA fragt: Wie lautet denn deine Meinung zu dem Thema? Schreib sie uns in die Kommentare.