Internationaler Frauentag: Wie steht´s um die Gendermedizin?

Gendermedizin? Nein, es geht nicht um Sterne, Doppelpunkte oder das Binnen-I in der Fachliteratur – jedenfalls nicht vordringlich. Vielmehr geht es um das Verständnis, dass es medizinisch relevante Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt.

Gendermedizin will die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Krankheitsrisiken, Symptome, Diagnose, Behandlung und Prävention von Krankheiten berücksichtigen. In der Arzneimitteltherapie sind diese Unterschiede teilweise schon lange bekannt, dennoch findet das Thema in Ausbildung und Beruf erst langsam mehr Beachtung. Dabei könnte ein Umdenken durchaus Leben retten.

Frauenherzen schlagen anders

Seit längerem weiß man, dass es bei Frauen und Männern Unterschiede in der Häufigkeit, Wahrnehmung und Ausprägung bestimmter Erkrankungen gibt. Studien zeigen, dass Frauen beispielsweise fast dreimal häufiger an einer rheumatoiden Arthritis (RA) erkranken als Männer. Das weibliche Geschlecht ist ein Risikofaktor für Autoimmunerkrankungen wie der RA, aber auch für Stoffwechselstörungen wie Hypothyreose. Von einer Schilddrüsenunterfunktion sind daher eher Frauen betroffen. Erst im Februar machte die Initiative „Frauenherzen schlagen anders“ darauf aufmerksam, dass die Symptome eines Herzinfarkts völlig andere sein können als bei Männern. Deren Beschwerden – Schmerz in der linken Brust oder im linken Arm, gelten aber nach wie vor als Leitsymptome für den Verdacht auf einen Infarkt. Die Folge sei, so die Initiative, dass Herzinfarkte bei Frauen, die häufig nur diffuse Warnzeichen wie Kieferschmerzen oder Druck im Oberbauch spüren, mitunter zu spät erkannt würden oder gar unbehandelt blieben.

Frauen: Hormone und Enzyme unterscheiden sich von denen der Männer

Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur in den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. So haben Frauen einen größeren Anteil an Fett, einen (zyklusabhängigen) Wasseranteil und weniger Muskelmasse als Männer. Zudem wiegen sie auch meist um die zehn Kilogramm weniger als altersgleiche Männer, weshalb es zu unterschiedlichen Verteilungsvolumina zwischen den Geschlechtern kommt.

Weiterhin metabolisieren Frauen in hohem Ausmaß eigene Hormone wie Östrogene. Auch die Enzymausstattung unterscheidet sich: Die Expressionen von CYP3A4-Proteinen und mRNA sind bei Frauen deutlich ausgeprägter. Da Östrogene Substrate von CYP3A4 sind, können entsprechende Arzneimittel-Wechselwirkungen mit CYP-Inhibitoren und -Induktoren auftreten. Zudem muss beachtet werden, dass Östrogene dem enterohepatischen Kreislauf unterliegen, während er für Androgene wahrscheinlich unbedeutend ist.

Die physiologischen Gegebenheiten führen dazu, dass sich pharmakokinetische Parameter zwischen Männern und Frauen unterscheiden. Beispielsweise ist bekannt, dass Frauen bei der Elimination des synthetischen Glucocorticoids Methylprednisolon eine höhere Clearance als Männer haben. Wissenschaftler:innen haben auch festgestellt, dass die maximale Plasmakonzentration nach der Einnahme von 100 mg Metoprolol-Tartrat zweimal täglich bei Frauen viel höher ist als bei Männern. Außerdem kam es bei Frauen zu einer stärkeren Senkung der Trainingsherzfrequenz und des systolischen Blutdrucks.

Frauen spüren häufiger Nebenwirkungen 

Es ist daher nicht verwunderlich, dass geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik zu einer höheren Rate an unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) bei Frauen beitragen. Studienergebnisse aus verschiedenen Teildisziplinen der Medizin belegen, dass sich nicht nur die Pharmakokinetik, sondern auch die -dynamik bei Frauen und Männern signifikant unterscheiden. So kommen beispielsweise arzneimittelinduzierte Torsade de pointes, eine potenziell lebensbedrohliche Herzrhythmusstörung, bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern vor. Zusätzlich kann die gefürchtete Nebenwirkung der QT-Zeitverlängerung zyklusabhängig auftreten.

Außerdem ist die Verträglichkeit von Betablockern, die über CYP2D6 metabolisiert werden, geschlechtsabhängig. Klinische Untersuchungen zeigen, dass es eine geschlechtsspezifische Häufigkeit an Krankenhausaufenthalten nach der Einnahme dieser Arzneimittel gibt – Frauen wurden vermehrt in die Klinik eingeliefert, weil sie das Medikament nicht vertragen haben. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Frauen sind insgesamt öfter von Nebenwirkungen betroffen als Männer. Die Forschung geht davon aus, dass diese Rate bei Frauen um 30 Prozent höher liegt.

Zulassungstest eher an Männern, Frauen spüren die Folgen

Untersuchungen zeigen, dass Frauen in klinischen und präklinischen Studien unterrepräsentiert sind. Dies wird unter anderem wegen der Erfahrungen mit Thalidomid (Contergan®, Grünenthal) historisch begründet. Viele auf dem Markt gängige Arzneimittel wurden nicht oder nur zu einem geringen Teil an Frauen getestet. Derzeit wird die repräsentative Berücksichtigung von Frauen in Studien zwar aus wissenschaftlicher und auch behördlicher Sicht gefordert, doch einheitliche Regelungen, wie viel Prozent der Studienteilnehmenden weiblich sein müssen, gibt es nicht.

Neue Erkenntnisse finden zudem nicht immer schnell Zugang in die Fach- und Gebrauchsinformationen. Dieser Zustand kann zur Folge haben, dass manche Wirkstoffe bei Frauen beispielsweise unter- oder überdosiert werden bzw. gesundheitsschädliche sowie lebensgefährliche Folgen mit sich bringen. Ein gutes Beispiel ist das Schlafmittel Zolpidem, das zu den sogenannten Z-Substanzen gehört. In Deutschland ist das Medikament in der Stärke zu 5 und 10 mg erhältlich. Eine von der US-Arzneimittelbehörde FDA durchgeführte Studie verdeutlicht, dass Frauen den Wirkstoff anscheinend deutlich langsamer abbauen als Männer. Denn 15 Prozent der Probandinnen hatten acht Stunden nach der Einnahme von 10 mg schnellfreisetzendem Zolpidem eine hohe Blutkonzentration erreicht, die in der Regel mit einer deutlichen Herabsetzung des Reaktionsvermögens einhergeht und beispielsweise zu Stürzen und Unfällen führen kann. Bei den Männern lag dieser Wert bei drei Prozent. Aufgrund dieser Ergebnisse setzte die FDA die zugelassene Dosis für Frauen bei schnell freisetzenden Zolpidempräparaten im Jahr 2013 von 10 auf 5 mg herab.

Für ein deutsches Zolpidem-Präparat, dass in der Dosierung von 10 mg pro Tablette verfügbar ist, heißt es in der Fachinformation bis heute: „Eine Dosis von 1 Tablette pro Tag sollte nicht überschritten werden.“ Geschwächten oder älteren Patienten (über 65 Jahren) wird eine halbe Tablette pro Tag als Höchstdosis genannt. Ein Geschlechterunterschied wird nicht berücksichtigt.

Gendermedizin im Klinik- und Apothekenalltag

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei manchen Erkrankungen und Arzneimitteltherapien sind inzwischen wissenschaftlich anerkannt. So stellte das Robert Koch-Institut in einem Bericht zur gesundheitlichen Lage der Frauen in Deutschland 2020 fest, dass es mit Blick auf eine geschlechtsdifferenzierende Medizin durchaus Fortschritte gibt. Wichtig ist, dass dieses Wissen in die regulären Lehrbücher und Lehrpläne aufgenommen wird. Bereits bei der Ausbildung des Nachwuchses an Universitäten und PTA-Schulen sollten angehende Fachkräfte des Gesundheitswesens Aspekte der Gendermedizin in der medizinischen bzw. pharmazeutischen Versorgung berücksichtigen. Immerhin geht es darum, rund der Hälfte unserer Bevölkerung bessere Therapien anbieten zu können.

Einen Trost gibt es einstweilen: Obwohl vieles in Medizin und Pharmazie auf die Bedürfnisse von Männern ausgerichtet war und teilweise noch ist, haben Frauen im europäischen Schnitt eine um vier Jahre höhere Lebenserwartung als das „starke Geschlecht". Ist doch auch was …

Extrahiert
  • Gendermedizin will die Unterschiede zwischen den Geschlechtern hinsichtlich Krankheitsrisiken, Symptomen, Diagnose, Behandlung und Prävention von Krankheiten berücksichtigen.
  • Unterschiede bei Gewicht, Wasserhaushalt, Muskelmasse, Hormonausstattung und metabolischen Prozessen führen zu anderen Medikamentenwirkungen als bei Männern.
  • Frauen sind anfälliger für Nebenwirkungen von Medikamenten.
  • Die medizinische Berücksichtigung dieser Unterschiede dringt vor, aber eher verhalten.