Wochenrückblick: Kritik an der Ampel und Olaf Scholz freut sich trotzdem

In dieser Woche wurde die deutsche Gesundheitspolitik von verschiedenen Seiten kritisiert, während Olaf Scholz sich gleichzeitig über ein neues Pharmawerk freut. Apropos Pharmafirmen: Das Europaparlament hat beschlossen, dass diese künftig mehr für die Abwasserreinigung zahlen sollen. Dazu: Neue Medikamente und neue Erkenntnisse aus der Coplant-Studie und der Krankenkassen.

Gesundheitsverbände kritisieren Ampelpolitik in gemeinsamer Erklärung 

Am Donnertag kritisierten die Verbände von Praxisärzten, Zahnärzten, Kliniken und Apotheken die Bundesregierung in einer gemeinsamen Erklärung scharf und warnten mit eindrücklichen Beispielen vor negativen Folgen für die Gesundheitsversorgung vor Ort. Alle vier Verbände waren sich einig, dass das Gesundheitswesen sowohl mit mehr Geld ausgestattet wie entbürokratisiert, die Freiberuflichkeit gestärkt und der Umgang von Minister Lauterbach mit ihnen besser und kooperativer werden müsse. Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, bemängelte, dass Reformen von Minister Karl Lauterbach am Reißbrett konstruiert würden, was angesichts des Personalmangels nicht umsetzbar sei. Gerald Gaß, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, wies auf akute Finanznöte hin und warnte vor Einschränkungen, die zu einer schlechteren Versorgung, insbesondere auf dem Land, führen könnten. Martin Hendges, Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, kritisierte die Kostendämpfungspolitik Lauterbachs und das Zurückgehen von Behandlungen. ABDA-Präsidentin Gabriele Regina beklagte zunehmende Lieferengpässe, bürokratische Hürden und die seit Jahren unzureichende Finanzierung der Apotheken. Pläne des Gesundheitsministers zur Einführung von Gesundheitskiosken wie sie zurück und nannte diese „Scheinapotheken“. Bleibt jetzt der erforderliche Kurswechsel aus, wollen die vier Organisationen in den kommenden Wochen die Mitarbeitenden im Gesundheitswesen und vor allem die breite Öffentlichkeit auf unterschiedlichen Kanälen verstärkt über die verheerenden Folgen dieser Politik für die Versorgung von rund 84 Millionen Patienten in Deutschland aufklären. 

Neues Medikament gegen bakterielle Augenentzündungen auf dem Markt

Nettacin ist ein neues topisches Antibiotikum von SIFI, das als Augentropfen zur Behandlung von bakteriellen Augenentzündungen entwickelt wurde. Der Wirkstoff Netilmicin hat eine breite Wirksamkeit gegen grampositive und gramnegative Bakterien, einschließlich resistenter Stämme. Die Anwendung erfolgt dreimal täglich mit 1-2 Tropfen für 5 Tage. Nettacin wirkt bakterizid, indem es die Proteinbiosynthese der Bakterien stört. Es gibt Kontraindikationen und mögliche Nebenwirkungen, aber bisher keine Fälle von Überdosierung.  
 
Die gleichzeitige Anwendung mit bestimmten Medikamenten kann allerdings zu Wechselwirkungen führen, wie der Hersteller mitteilt. Empfehlungen zur Anwendung und Sicherheit sind zu beachten, einschließlich Vorsichtsmaßnahmen während der Schwangerschaft und Stillzeit sowie hinsichtlich der Verkehrstüchtigkeit. Die Wirksamkeit von Netilmicin wurde in Studien bestätigt, die eine hohe Erfolgsrate bei der Behandlung verschiedener Bakterienstämme zeigten, einschließlich resistenter. Präklinische Studien deuten auf eine gute Verträglichkeit hin. Nettacin ist für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren nicht empfohlen, da für diese Altersgruppen keine ausreichenden Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit vorliegen. 
 

Wie Cortison hilft, Entzündungen zu dämpfen

Eine aktuelle Studie inNature beleuchtet neue Erkenntnisse über den Wirkmechanismus von Glucocorticoiden, die bei Entzündungen eingesetzt werden. Forschende fanden heraus, dass Glucocorticoide nicht nur die Genexpression beeinflussen, sondern auch den Zellstoffwechsel von Immunzellen modulieren. Insbesondere kehren sie die durch Entzündungen ausgelösten Veränderungen im Mitochondrienstoffwechsel um, indem sie die Produktion eines entzündungshemmenden Metaboliten namens Itaconat fördern. Dieser Mechanismus helfe, chronische Entzündungen zu kontrollieren. Bei Tieren ohne die Fähigkeit zur Itaconatproduktion zeigten Glucocorticoide keine Wirkung. Obwohl Itaconat selbst nicht als Medikament geeignet sei, suchen Forschende nun nach Substanzen mit ähnlicher Wirkung, aber besserer Verträglichkeit.

Hepatitis weiter auf dem Vormarsch

Die WHO warnt: Hepatitis-Erkrankungen bleiben unterdiagnostiziert und unbehandelt. Die Todesfälle durch virale Hepatitis stiegen von 1,1 Millionen (2019) auf 1,3 Millionen (2022). 83 Prozent gehen auf Hepatitis B zurück, 17 % auf Hepatitis C. Hepatitis umfasst A bis E, B und C sind besonders gefährlich, führen oft zu Leberzirrhose und Leberkrebs, wie der WHO-Bericht zeigt. Neuinfektionen gingen leicht zurück (2019: 2,5 Mio., 2022: 2,2 Mio.), was auf Impfungen und Präventionsmaßnahmen hinweist. Dennoch stecken sich täglich 6000 Menschen an. Nur 13 Prozent der chronischen Hepatitis-B-Fälle waren diagnostiziert (Ende 2022), nur 3 % hatten Zugang zur Therapie. Bei Hepatitis C waren etwa ein Drittel diagnostiziert, ein Fünftel in Behandlung.

Die WHO kritisiert, dass viele Länder immer noch teure Medikamente kaufen, obwohl günstige Generika verfügbar sind. Tests und Therapien sind oft nicht staatlich finanziert, sondern vom Patienten zu zahlen. Afrika und Asien sind besonders betroffen. Zwei Drittel der Neuinfektionen entfallen auf Äthiopien, Bangladesch, China, Indien, Indonesien, Nigeria, Pakistan, die Philippinen, Russland und Vietnam. Übertragen wird Hepatitis durch verunreinigte Lebensmittel (A und E) oder Blut und Sexualkontakte (B und C). 

Coplant-Studie gestartet: Was bringt pflanzliche Ernährung? 

Am Dienstag der Woche fiel mit der Untersuchung des ersten von insgesamt 6.000 Probanden der Startschuss zur Coplant-Studie. Sie soll die Auswirkungen von vegetarischer und veganer Ernährung auf die Gesundheit untersuchen. Anlass für Coplant: Das Interesse an pflanzenbasierter Ernährung wächst, besonders bei jüngeren Menschen. Bisher gebe es jedoch nur wenige wissenschaftlich belastbare Daten zu den Effekten heutiger pflanzenbasierter Ernährungsweisen auf den Körper, so die Initiatoren der Studie. Sie ziele darauf ab, diese Wissenslücke zu schließen und gesunde und nachhaltige Ernährungsempfehlungen zu entwickeln. 

Die Studie ist ein Kooperationsprojekt des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR), des Max Rubner-Instituts (MRI), des Forschungsinstituts für pflanzenbasierte Ernährung (IFPE) sowie der Universitäten Jena, Bonn, Heidelberg, Regensburg und Wien. Coplant steht für „Cohort on plant-based diets“ (auf Deutsch: Kohortenstudie zu pflanzenbasierten Ernährungsweisen). Obwohl es bereits Studien zu diesem Thema gab, seien diese nicht unbedingt auf heutige Ernährungsformen übertragbar. Zum Beispiel hat das Angebot an veganen Lebensmitteln und Fleischersatzprodukten in den letzten Jahren deutlich zugenommen, aber einige davon sind hochverarbeitet, zucker-, fett- und salzreich. Die Teilnehmer der Studie sind Frauen und Männer im Alter von 18 bis 69 Jahren, die sich entweder vegan, vegetarisch oder pescetarisch (kein Fleisch, aber Fisch) ernähren oder sowohl pflanzliche als auch tierische Produkte konsumieren. Sie beantworten Fragen zu ihrer Ernährung und Gesundheit und werden regelmäßig körperlich untersucht. Zuhause führen sie ein Ernährungsprotokoll und sammeln Stuhlproben, um Aufschluss über ihre ausreichende Aufnahme von Vitaminen und Mineralien zu geben. (Über die Probleme solcher Studien hat sich die Apothekenspitzelin hier ein paar Gedanken gemacht). Erste Ergebnisse erwartet man nach Ende der Probanden-Rekrutierung für 2026-2027, insgesamt soll die Studie über 20 Jahre laufen.

Scholz freut sich: Eli Lilly baut in Rheinland-Pfalz 

Grund zur Freude bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): Der amerikanische Pharmakonzern kommt baut ein neues Werk in Deutschland.  Beim symbolischen Spatenstich für den neuen Standort im rheinland-pfälzischen Alzey am vergangenen Montag sagte Scholz: „Was immer wir als Bund tun können, um den Pharmastandort Deutschland zu stärken, das werden wir tun.“ Eli Lilly investiert rund 2,3 Milliarden Euro in den Standort in Rheinhessen, was als eine der größten Einzelinvestitionen in deutschen Pharmastandort seit der Wiedervereinigung gilt. Die neue Fabrik in Alzey wird ab 2027 injizierbare Medikamente produzieren und etwa 1.000 Arbeitsplätze schaffen. Subventionen für die Ansiedlung gab es nicht. Scholz verwies auch auf andere Erfolge wie den Biontech-Stammsitz in Mainz und die Deutschlandzentrale von Novo Nordisk. In Alzey wird unter anderem das Diabetesmittel Mounjaro mit dem Wirkstoff Tirzepatid produziert, das auch im Eli-Lilly-Abnehmmittel Zepbound in den USA verwendet wird 

AMIRA fragt: Habt ihr den Eindruck, dass das Scholz-Zitat zutrifft? Oder hat die Bundesregierung bei der Förderung des Pharmastandorts Deutschland noch Luft nach oben? 

KKH: Behandlungen nach Cannabinoid-Konsum in letzten Jahren deutlich gestiegen 

Keine schönen Zahlen, die die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) in dieser Woche veröffentlichte. Demnach hat sich die Anzahl der Menschen, die aufgrund von gesundheitlichen Problemen im Zusammenhang mit Cannabis-Konsum ärztliche Hilfe benötigten, in den letzten zehn Jahren mehr als verdreifacht. Im Jahr 2012 wurden knapp 1300 Versicherte aufgrund von akutem Rausch, Abhängigkeit, Entzugserscheinungen oder psychischen Problemen durch Cannabinoide ambulant behandelt, während es im Jahr 2022 etwa 4000 Fälle waren. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ergibt sich ein Anstieg von 65.400 Fällen im Jahr 2012 auf 209.000 Fälle im Jahr 2022. Insbesondere in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen gab es eine Verdoppelung der Fälle von etwa 5600 auf rund 11.300. Da nur gesicherte ambulante Arztdiagnosen berücksichtigt wurden, könnte die tatsächliche Anzahl höher sein. Die Krankenkasse analysierte die Daten ihrer 1,6 Millionen Versicherten mit Bezug auf den Diagnose-Code F12 „Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide“. Wie schon mehrfach gemeldet, sind Besitz, Konsum und Anbau von Cannabis für Erwachsene seit dem 1. April unter bestimmten Auflagen legal.  

Pharmafirmen sollen mehr für Abwasserreinigung zahlen 

Am Mittwoch hat das Europaparlament beschlossen, dass Pharma- und Kosmetikfirmen verpflichtend 80 Prozent der Kosten für die Abwasserreinigung tragen müssen. Dies soll durch nationale Gelder ergänzt werden, um Engpässe bei Medikamenten zu vermeiden und ihre Bezahlbarkeit sicherzustellen. Mikroschadstoffe aus Arzneien und Kosmetikprodukten gelangen ins Abwasser, was von Klärwerken nicht immer vollständig gefiltert werden kann. Zusätzlich werden Abwässer strenger hinsichtlich antibiotikaresistenter Erreger, Viren und Mikroplastik überwacht. Die EU-Länder müssen die Wiederverwendung von behandeltem Abwasser aus kommunalen Kläranlagen fördern, insbesondere in wasserarmen Gebieten. Diese neuen Vorschriften müssen noch von den EU-Staaten formal angenommen werden, bevor sie in Kraft treten können. Der Verband kommunaler Unternehmen begrüßte die Pläne als machbares und ambitioniertes Programm. Die erweiterte Herstellerverantwortung, also die Beteiligung der Kosmetik- und Pharmaindustrie an den Abwasserkosten, wird positiv bewertet. Alle Hersteller, die ihre Produkte in der EU verkaufen, müssen zahlen, um Nachteile für heimische Hersteller zu vermeiden. Am selben Tag verabschiedeten die Abgeordneten auch eine Initiative, um Antibiotikaresistenzen einzudämmen und die Entwicklung neuer Antibiotika zu fördern.